Vom Wert der verlorenen Muße

Vom Wert der verlorenen Muße

Im Urlaub die innere Balance wiederfinden: Philosophen, Dichter und Neurologen weisen den Weg

Urlaubszeit ist Reisezeit. Reisen lebt vom Reiz des Neuen, der Ferne, des Unbekannten. Selbst im Zeitalter des Massentourismus steht am Anfang noch immer die Sehnsucht nach dem Aufbruch. Wir wollen dem Alltagstrott entfliehen, raus aus den Fesseln, die uns einengen. „Nur weg von hier, immerfort weg, nur so kann ich mein Ziel erreichen“, dichtete schon Franz Kafka 1922. Selbst für Goethe war seine ruhmreiche Reise nach Italien in erster Linie eine Flucht aus der Weimar. Auch der Dichterfürst war bestrebt, der Enge, den Beziehungen und den Pflichten zu entkommen. Schon während der Anreise fällt die Schwere des Arbeitslebens ab, das Gemüt wird leichter und freier. Die eigene Wahrnehmung setzt wieder ein und mit ihr die Vorfreude auf eine Reihe von hoffentlich schönen Tagen.

Die Geschwindigkeit, mit der man heute in der Epoche der Globalisierung in die verschiedensten Städte, Länder und Kulturräume gelangen kann, verstärkt diesen Trend. „Auf Reisen“, so der Globetrotter Max Frisch, „gleichen wir einem Film, der belichtet wird; entwickeln wird ihn die Erinnerung. Selbst nervtötende oder gar traumatische Erlebnisse erhalten nach der Heimkehr noch ihren silbernen Glanz.“ Vergessen sind dann die zeitraubenden Staus auf den Autobahnen und die langen Warteschlangen in den Abfertigungshallen der Flughäfen, verdrängt die Massen an den Meeresstränden und der „Nepp“ in so manchem Restaurant. Verflogen ist dann auch der Ärger über unliebsame Mitreisende, denen nur eines fehlte: eine gute Kinderstube. Zu ihnen gehören all jene, die nur deshalb jedes Jahr in den Urlaub fahren, um mit provozierender Hemmungslosigkeit der heutigen Spaßgesellschaft zu frönen. „Saufen bis zum Umfallen“ heißt die Devise, und dies bei extrem lauter Schlager- und Schnulzenmusik, die selbst tagsüber kaum zu ertragen ist. Die Kehrseite dieser nächtlichen Ballermann-Exzesse ist dann am nächsten Morgen an den Stränden sichtbar. Ein nicht gerade appetitlicher Anblick, der sowohl am Image des Gastlandes, vor allem aber am Erscheinungsbild der Gäste nagt.

Der Welt der fremden Kulturen nicht gerade aufgeschlossen sind auch jene Urlauber, die jedes Jahr bewusst das gleiche Ziel ansteuern und am liebsten dasselbe Hotelzimmer beziehen möchten. Damit nicht genug, legen sie außerdem Wert darauf, die aus der Heimat gewohnten Strukturen auch noch am Urlaubsort vorzufinden, um ihre alten Gewohnheiten auch in der Ferne zu pflegen. Dieser Typ von Erholungsuchenden will nur beim deutschen Bäcker oder Metzger einkaufen, ausschließlich deutsches Bier trinken und sich im Notfall auch nur von deutschen Ärzten behandeln lassen. Dies hat dazu geführt, dass clevere Geschäftsleute regelrechte Parallelwelten geschaffen haben.

Die Kehrseiten dieses Massentourismus sind bereits unübersehbar. Die Einheimischen werden aus dem Markt gedrängt. Die Wohnungsmieten schießen für Ortsansässige in unbezahlbare Höhen und der Bauboom verschandelt bereits in vielen Touristenzentren das in Jahrhunderten gewachsene Bild der Altstädte. Mittlerweile hat denn auch bei den verantwortlichen Behörden ein Umdenken eingesetzt. Die Lösung heißt „sanfter Tourismus“, mit dem die Urlauber Land und Leute in ihrer ursprünglichen Form und Lebensweise erfahren sollen und gleichzeitig die Schönheiten der Natur, die Prachtbauten und die Kunstschätze genießen können. Schließlich wollen viele bei ihren Streifzügen durch fremde Länder und Kulturen auch eine innere Bereicherung erfahren, aus der sie wieder Kraft schöpfen. Diese Sehnsucht zu stillen, braucht aber Zeit und vor allem Ruhe. Zu viel stürmt gegenwärtig auf den Jetset-Urlauber ein, und die Anekdote vom reisenden Indianer, der immer wieder seinen Wagen anhalten lässt, damit auch seine Seele nachkommen könne, bezeugt dies nur.

Zur Ruhe kommen

Schon vor mehr als 300 Jahren beklagte der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal die Unfähigkeit seiner Zeitgenossen, allein in einem Zimmer zur Ruhe zu kommen. „Um sich vom eigenen inneren Elend abzulenken, kommt es, dass die Menschen den Lärm und das Getöse so schätzen.“, so der Gelehrte. Heute ist es die permanente Kommunikation, die die Menschen in ihrem Bann hält. Im Zeitalter der Handys, Tablets und der iPhones mit ihren unzähligen Apps fluten nicht mehr Gedanken, sondern meist nur noch Kopfhörerschallwellen das Gehirn. „Wir leben“, wie der Soziologe Hartmut Rosa diagnostiziert hat, „in einer Beschleunigungsgesellschaft, in der das Gefühl des Gehetztseins zum Dauerzustand geworden ist. In der Tat, wir sind ungeheuer flexibel geworden und finden immer weniger Verankerung in stabilen sozialen Beziehungen. Wir versuchen immer mehr, Dinge in noch kürzerer Zeit zu erledigen. Wir essen Fast Food, statt in Ruhe zu kochen, und ersetzen den gesunden Mittagsschlaf durch einen „Mini-power-nap“. Im Trommelfeuer der Dauerberieselung bleiben aber dabei unsere kognitiven Fähigkeiten vielfach auf der Strecke.

Selbst der Verlust an religiösen Bindungen kann zum Gefühl beitragen, keine Zeit mehr zu haben. Wer keinen Bezug zum Tod und der eigenen Endlichkeit entwickelt hat, ist durchaus geneigt, das Leben als „letzte Gelegenheit“ wahrzunehmen, wie es die Sozialwissenschaftlerin Marianne Gronemeyer formuliert. Im Klartext: Man weiß zwar, dass man sterben muss, aber vorher will man das Leben noch in vollen Zügen genießen und unendlich viel erledigen. Nun, Gott gab die Zeit. Von Eile hat er nichts gesagt. Allerdings kommt es schon einem kleinen Treppenwitz gleich, dass sich ausgerechnet aus dem lateinischen Wort für Rosenkranz (computum) auch der Name Computer (computare = rechnen) herleitet, dass sozusagen göttliche Ruhe und der irdische Weltenbeschleuniger auf der selben Sprosse der „virtuellen Himmelsleiter“ zu finden sind.

Im persönlichen Bereich führt diese Hamsterradgeschäftigkeit zur ständigen Gereiztheit, Aggression und Burn-Out-Symptomen, die bis hin zu Depressionen führen können. In der Ökonomie hat dieses Jetset-Handeln noch viel dramatischere Auswirkungen. Die atemlose Geschwindigkeit, mit der heute an den Börsen und in Großbanken finanzielle Transaktionen durchgeführt werden, hat dazu geführt, dass die Weltwirtschaft nur knapp am Zusammenbruch vorbeigeschrammt ist. Noch heute hinkt die reale Produktion ebenso weit hinterher wie der Versuch der Politiker, Regulierungen zu beschließen, die diese rasanten Höllenfahrten entschleunigen.

Jedoch genießen viele unserer Zeitgenossen auch dieses Tempo, hat es doch ein Maß an Wohlstand gebracht, den die wenigsten ernsthaft missen wollen. Je mehr Optionen es gibt und je mehr Erlebnisse möglich sind, umso reicher erscheint ihnen das Leben. Dieses Glücksgefühl gleicht aber dem eines Suchtkranken, der an Feiertagen, wenn er einmal nicht unter Strom steht, mit Entzugserscheinungen zu kämpfen hat. Wissenschaftler sprechen schon vom Krankheitsbild der „Nomonophonie“, also der großen Angst, plötzlich ohne Mobiltelefonkontakt auskommen zu müssen. Viele Menschen haben sogar Angst davor, einmal sich selbst ausgesetzt zu sein. Deshalb der ständige Kick, die permanente Stimulation, hinter der meist ohnedies nur eine unersättliche Gier hervorlugt.

„Geh mir aus der Sonne“

Doch wie soll man aus diesem sich ständig schneller drehenden Karussell aussteigen, ohne dabei gleich ganz aus der Bahn zu fliegen? Philosophen, Dichter und Forscher haben dafür das Zauberwort: die Muße! Dabei geht es um weit mehr als nur ein bisschen Wellness für die gestresste Seele. Es geht darum, Zeit für das Wesentliche zu finden – sowohl im Arbeitsleben wie im privaten Bereich. „Die Muße scheint Lust, wahres Glück und seliges Leben in sich selbst zu tragen“, so der griechische Weltendenker Aristoteles. Als König Alexander der Große auf dem kynischen Philosophen Diogenes traf, der bekanntlich in einer Tonne gewohnt haben soll, fragte er ihn, welchen Wunsch er ihm denn erfüllen könne. Die Antwort kam postwendend: „Geh mir aus der Sonne!“ Kontemplation war für Diogenes sowohl Lebenszweck als auch Daseinsgrund.

Auch Goethe hat die Muße zum Daseinsprinzip erhoben. Er fand sie bei seiner Arbeit in der Botanik, vor allem beim Sammeln von Steinen. Weil die Natur nichts will, sondern aus sich heraus vollkommen ist, sah er in ihr ein Abbild der Muße. „Wenn der Mensch zur Ruhe gekommen ist, dann wirkt er“, erklärte der italienische Renaissance-Dichter Petrarca. Für diese These gibt es sogar berühmte Beispiele. So kam dem berühmten Physiker Isaac Newton der zündende Einfall zu seiner Gravitationstheorie, als er im Garten liegend versonnen einen Baum betrachtete, von dem ein Apfel herunterfiel. René Descartes, der Begründer des neuzeitlichen Rationalismus im 17. Jahrhundert, war ein notorischer Langschläfer. Als ihm seine Lehrer am Jesuitenkolleg einmal mit einem Kübel Wasser unsanft zu wecken versuchten, schlummerte er einfach weiter, dachte aber im Halbschlaf nach. Mit den Worten „Ich denke, also bin ich“ hat dieser geniale, aber träge Mensch dabei die Dualität von Körper und Geist postuliert. Quasi beim Schlafen und Erwachen war er zum Kernsatz seiner Philosophie vorgedrungen. Dem Chemiker Friedrich August Kekule wiederum offenbarte sich die lang gesuchte Struktur des Benzolrings sogar im Traum.

Muße hat daher nichts mit Faulenzen zu tun. Sie bedeutet vielmehr, sich in aller Ruhe und zweckfrei dem hinzugeben, was Freude bereitet und von Interesse ist. Auch Langsamkeit ist noch keine Muße, aber sie kann ein Weg dorthin sein. Dass Geist und Seele schöpferische Pausen brauchen, hat längst auch die Wissenschaft entdeckt. Wie neurobiologische Experimente zeigen, braucht unser Gehirn offenbar immer wieder Zeiten des Nichtstuns – nicht etwa zum Ausruhen, sondern um sich gesund sortieren zu können. Ein gewisser, zeitlich beschränkter Leerlauf im Kopf ist daher für unsere geistige Stabilität geradezu unabdingbar. „Muße“, so die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny, „ist die Intensität des Augenblicks, um sich auf ein Einziges zu konzentrieren. Sie ist die Übereinstimmung zwischen mir und dem, worauf es in meinem Leben ankommt.“

Aber wie kann man Muße finden in einer Welt des permanenten elektrischen Bombardements? Da sie für jeden etwas anderes bedeutet, müssen auch die Auswege aus diesem digitalen Wahnsinn individuell sein. Manche schalten am Wochenende ihre Handys und das Internet aus, andere flüchten aufs Land oder gehen für einige Tage ins Kloster. Ruhe findet man aber auch in Parks beim Blick auf die Baumwipfel, über die Blumenbeete und auf das satte Grün der Anlagen. Noch besser gelingt die Rückeroberung der Stille in dunklen Wäldern, auf einsamen Almwegen und vor allem am Meeresstrand. Man vergräbt die Füße im warmen Sand, lässt die Körper durch die Hände rieseln, blinzelt in den Himmel, spürt den sanften Wind auf der Haut und kehrt beim Rauschen der Wellen zurück zu sich selbst.

So paradox es auch klingen mag, letztendlich braucht man sich bei der Suche nach dem Wert der Muße eigentlich nur ein Vorbild an den Kindern zu nehmen, die geborene Müßiggänger sind. Sie beurteilen nicht wie die Erwachsenen alles nach Kosten, Effizienz und Nützlichkeit, sondern verfallen beim Spielen in ihre eigene Welt der Träume und Phantasien und machen Dinge einfach nur um ihrer selbst willen. In dieser Hinsicht kann man noch viel von ihnen lernen.

Quelle: Magazin zum Wochenende, Samstag 17. August 2013 – Dr. Hans Götzl

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